EINLEITENDES
WIRTSCHAFT: SACH-, MENSCHEN- UND GESELLSCHAFTSGERECHT DENKEN
"Markt" und "Wirtschaft" sorgen nicht automatisch für menschenwürdige Verhältnisse, sondern können - im Gegenteil - sogar Leid und Elend verursachen. Das gilt eigentlich als Allgemeinplatz. Es ist allerdings noch nicht allzu lange her, dass der Hinweis darauf als unschicklich oder sogar rückschrittlich bezeichnet wurde, galt es doch im euphorischen Glauben an die Effizienz und Selbstheilungskräfte der "Märkte", selbige zu entfesseln (deregulieren) und sie vor Interventionen durch Staat und Gesellschaft zu schützen, was durch elementare "Reformen" vor allem des Sozialstaats begleitet wurde.
Doch seit den Wirtschaftskrisen ab 2007/2008 können die bis dahin häufig geäußerten Zweifel am vorherrschenden Wirtschaftsdenken zunehmend nicht mehr ignoriert werden. Dieses Wirtschaftsdenken steht seitdem im Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik. Diese richtet sich nicht nur an die Banken und Finanzmärkte. Kritisiert wird auch der ökonomische Glauben, der hinter den Austeritätsprogrammen steht, die z.B. in Griechenland zu sozialen Verwerfungen führen.
Spätestents seit "Das Kapital im 21. Jahrhundert" von Thomas Piketty (2013/2014) wird auch verstärkt über Umverteilung diskutiert. Systemkritik äußerte Papst Franziskus, der in nüchterner Deutlichkeit in Evangelii Gaudium (2013) feststellte: "Diese Wirtschaft tötet." Auch in Laudato si' (2015) lässt Franziskus keinen Zweifel daran, dass das bisherige Wirtschaften ökologische und damit auch soziale Probleme verursacht, weshalb umgedacht werden müsse. In Anlehnung an das Leitwort des Sozialethikers P. Johannes Schasching SJ (1917-2013) lässt sich deshalb darauf hinweisen, dass Wirtschaften nicht nur sachgerecht, sondern auch menschen- und gesellschaftsgerecht zu sein habe1.
Nach einer langen Phase, in der ausschließlich das Primat der Ökonomik im Vordergrund stand, wäre es nun dringend notwendig, wieder darüber nachzudenken, Wirtschaft sach-, menschen- und gesellschaftsgerecht zu denken.
Das vorliegende Dossier widmet sich diesem Leitwort und dem damit verbundenen Problemkomplex. Die Autorinnen und Autoren in den Sichtweisen leisten dazu eine kritische Bestandsaufnahme, die vom Menschenbild in der Wirtschaftswissenschaft bis zur Verbreitung ökonomischen Denkens in der Gesellschaft reicht. Gleichzeitig werden auch alternative Ansätze der Ökonomik vorgestellt, deren Menschen- und Gesellschaftsbild sich deutlich von dem unterscheidet, das in der heutigen Standard-Ökonomik üblich ist.
Die Orte sollen dieser ernüchternden Bestandsaufnahme mit Optimismus entgegenhalten, wo und wie heute bereits Wirtschaft anders gedacht wird. Dabei werden viele Initiativen aus dem Bildungsbereich - mit Schwerpunkt Hochschule - vorgestellt, aber auch Initiativen, die zeigen, dass ein alternatives Wirtschaftshandeln in der Praxis möglich ist.
Wir hoffen, Sie mit diesem Dossier nicht nur zum Nachdenken anzustiften und Ihnen Argumente zu liefern, sondern auch Mut zu machen: Wirtschaft kann immer noch menschen- und gesellschaftsgerecht gedacht werden.
-red-
1 Das Leitwort Schaschings lautet: "Handle stets sachgerecht, menschengerecht und gesellschaftsgerecht."
Sichtweisen
- Das unmenschliche Menschenbild in den Wirtschaftswissenschaften_Thomas Dürmeier
Der "homo oeconomicus" steht für das Menschenbild, das die Wirtschaftswissenschaft heute vermittelt. Was charakterisiert es? Was ist daran problematisch? - Ökonomik, Mensch und Gesellschaft_Sebastian Thieme
Die Kritik am "homo oeconomicus" führt zu der Frage nach alternativen Menschenbildern. Ein Blick auf ökonomische Ansätze abseits der Standard-Ökonomik liefert dazu viele Beispiele. - Ökonomisches Denken in der Krise?_Stephan Pühringer
Angesichts des Wirtschaftskrisen seit 2008 stellt sich die Frage, ob und inwiefern ökonomisches Denken einen Wandel erfährt. - Marktförmiger Extremismus_Eva Groß, Andreas Hövermann
Ökonomische Kategorien wie "Wettbewerb" und "Nutzen" wirken in den Alltag hinein und prägen somit auch das Denken in der Gesellschaft. Abwertungen anderer Menschen sind die Folge. - Ökonomische Misanthropie_Sebastian Thieme
Bezogen auf die menschenfeindlichen Züge ökonomischen Denkens lohnt nicht nur ein Blick auf die Menschenbilder in Ökonomik, sondern auch auf die Idee des Wettbewerbs sowie die Art, wie Ökonomik betrieben wird.
Orte
- Gesellschaft für Plurale Ökonomik_Hendrik Theine
Die kritische Studierenden-Initiative an der Wirtschaftsuniversität Wien stellt sich mit ihrem Anliegen und ihren Aktivitäten vor. - Institut für Institutionelle und Heterodoxe Ökonomie_Andrea Grisold
Das Institut für Institutionelle und Heterodoxe Ökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien ist eine Forschungseinricht, die traditionell eine Plurale Ökonomik vertritt. - Neues Denken lehren: die Cusanus Hochschule_Silja Graupe
Herkömmliche Bildungsinstitutionen sind kaum in der Lage, Wirtschaft neu zu denken. Die Gründung einer neuen Hochschule in Bernkastel-Kues soll das überwinden und vor allem ermöglichen, "neues Denken zu denken". - Tiefenbohrungen: Wirtschaft anders denken_Projektteam Tiefenbohrungen
Seit 2014 wird mit den Tiefenbohrungen eine Veranstaltungsreihe organisiert, deren Ziel es ist, ökonomische Klassiker, Themen und Positionen kritisch zu durchleuchten und das Publikum zum Nachdenken anzustiften. - Alternativen im Umgang mit Grund und Boden_Margit Fischer
Mietshaussyndikate wie habiTAT, Stiftungen wie RASENNA und Genossenschaften wie die Ökonauten zeigen alternative Eigentumsformen zum individualistisch geprägten Verständnis von Privateigentum. - Brot & Rosen_Dietrich Gerstner
Das "Haus der Gastfreundschaft" in Hamburg - eine Gemeinschaft und ein Modell menschengerechten Lebens und Wirtschaftens. - Mit-Sein und gutes Entscheiden in Ordensgemeinschaften_Alois Riedlsperger SJ
Ein Gespräch mit P. Alois Riedlsperger SJ, Mitglied der Gesellschaft Jesu (Jesuiten in Österreich) und derzeit deren Ökonom, Begleiter von Ordensgemeinschaften bei Entscheidungsfindungs- und Entwicklungsprozessen.
Ausblick
- Ist Wirtschaft "anders" - menschengerecht - zu denken?
Der Idee eines menschengerechten Wirtschaftsdenkens stehen viele Hindernisse im Weg. Aber zivilgesellschaftliche, hochschulpolitische und wissenschaftliche Initiativen machen zunehmend Mut, diese Hindernisse zu überwinden.