|
24.07.2024
Moderner Tourismus als neokolonialistisches Phänomen
Autor: Markus Schlagnitweit
In den von Massen- oder gar „Über-“Tourismus besonders betroffenen Reisedestinationen dieser Welt wächst langsam aber stetig der Widerstand einheimischer Bevölkerungsgruppen gegen wachsende Tourismus-bedingte Belastungen. Diese sind auch, aber nicht nur ökologischer oder infrastruktureller Natur. So sehr die Tourismuswirtschaft für manche Regionen eine kaum verzichtbare Arbeits- und Erwerbsquelle darstellt, so sehr bringt sie zumindest nicht unerhebliche Teile der einheimischen Bevölkerung in wirtschaftliche Bedrängnis, etwa durch die Verknappung von Wohnraum und dadurch überschießende Immobilienpreise, durch die Konzentration des Angebots von Gütern und Dienstleistungen auf den Bedarf zahlungskräftiger Reisender, durch die Verdrängung nicht-touristischer Wirtschafts- bzw. Erwerbszweige aus der Region etc. Wenn dann auch noch maßgebliche Gewinnanteile der Tourismusbetriebe gar nicht in der Region zur Verteilung kommen, sondern an internationale Tourismus-Konzerne und Kapitalgesellschaften gehen, kann tatsächlich von neokolonialistischer Ausbeutung gesprochen werden. Es sind dann eben nicht Rohstoffe, Nahrungsmittel oder Billiglohnarbeit, die von „ortsfremden“ Kräften angeeignet werden, sondern eben Schönheit von Natur und/oder Städten, kulturelles Erbe, klimatische Gunstlagen, Potenzial an Vergnügungen aller Art etc., und für die autochthone Bevölkerung verloren gehen Wohnraum, Agrar- und andere Wirtschaftsflächen, Wasser und Schutzgebiete zur Erhaltung des Öko-Systems, Ruhe- bzw. Regenerationszeiten, soziale Strukturen u.v.a.m.
Um mit dem Begriff „Neokolonialismus“ nicht missverstanden zu werden: Moderner Massen- bzw. Über-Tourismus verursacht in der Regel nicht unmittelbar dieselben Grausamkeiten und Menschenrechtsverletzungen historischer Kolonialmächte, welche den Angehörigen indigener Bevölkerungen entweder überhaupt das Menschsein absprachen oder ihnen zumindest nicht dieselben Grund- und Freiheitsrechte zubilligten wie den eigenen Bürger*innen. Der Punkt ist vielmehr, dass pure Kapital- bzw. Marktmacht den Tourist*innen selbst und/oder den touristischen Vermarktungsgesellschaften die Durchsetzung eigener (kurzfristiger) Interessen auf Kosten selbstbestimmter Lebens- und Entwicklungschancen, intakter Biosphären und sozialer Strukturen der dauerhaft in den Tourismusdestinationen lebenden Menschen gestatten.
Nun hätten Tourismus und Reisen an sich einen hohen individuellen, sozialen und kulturellen Wert: Reisen kann bilden, den eigenen kulturellen Horizont aufbrechen und Verständnis für andere Kulturen, Lebensformen, Moralsysteme u. dgl. wecken – und zwar auf Seiten der Reisenden ebenso wie auf Seiten des Gastlandes, sofern die hier stattfindenden Begegnungen auf Augenhöhe geschehen und nicht bereits unter dem oben beschriebenen Marktmacht-Gefälle. Es stellt sich allerdings zusätzlich die Frage, ob die so wertvollen Reise-Begegnungen unter den Rahmenbedingungen des modernen Massentourismus‘ überhaupt noch möglich und realistisch sind, ob nicht die schiere Menge an touristisch Reisenden genau diese authentischen Begegnungen verhindert. Wer kann denn etwa die religiöse Dimension eines Sakralbaus oder die kulturelle Bedeutung eines Kunstwerks bzw. Monuments erfassen im eng geschnürten Korsett von Time-Slots für deren Besichtigung? Kann noch echte Begegnung stattfinden unter rein marktförmigen Beziehungsstrukturen in der Polarität von Angebot und Nachfrage, welche die einander Begegnenden in Wirklichkeit zu Geschäftspartnern macht, also entweder zu Dienstleister*innen oder zu Kund*innen, und kulturellen Austausch auf diese Weise zum bloßen Tauschgeschäft degradiert? Und nicht zuletzt (und an das oben Gesagte anknüpfend): Wird nicht die Begegnung und Kommunikation zwischen Reisenden und Gastland grundlegend verzerrt, wenn zumindest maßgebliche Teile der Gastland-Bevölkerung von diesem Austausch überhaupt ausgeschlossen bleiben bzw. ihn als Bedrohung bzw. Störung erleben und andererseits seitens der Tourist*innen gar kein Interesse an Begegnung auf Augenhöhe mehr besteht, weil der Zweck ihres Reisens sich in der Befriedigung von Eigeninteressen erschöpft?
Die seit einigen Jahren diskutierten und mittlerweile auch lokal umgesetzten Maßnahmen zur Lösung von durch den Massen- und Über-Tourismus verursachten Problemen (Besucher-Kontingente und andere Maßnahmen zur Lenkung von Touristen-Strömen, Eintrittsgelder in Städte, Verbote touristischer Wohnraumbewirtschaftung, touristische Schonzeiten, also befristete Betretungsverbote für Biosphären etc.) sind so divers wie diese selbst und setzen häufig nur an den Symptomen des Problems an, nicht an seiner Wurzel. Letztlich ist an der grundlegenden Sinnfrage des Reisens anzusetzen und wären entsprechende kritische Bildungs- und Reflexionsprozesse zu initiieren, um alle am gegenwärtigen Tourismusbetrieb irgendwie Beteiligten zu erreichen und in ihre jeweilige Verantwortung zu rufen: die Reisenden selbst ebenso wie ihre Dienstleister, Tourismusbetriebe ebenso wie Investoren.
Was jedenfalls für andere Märkte gilt, gilt ganz offensichtlich auch für den Tourismus-Markt: Er regelt keineswegs alles optimal, indem er sich selbst überlassen bleibt, sondern braucht wirksame und Gemeinwohl-orientierte politische Rahmensetzungen. Und da im Gemeinwohl-Verständnis der Katholischen Soziallehre die Beachtung vitaler Grundbedürfnisse „aller Einzelnen eines Sozialgebildes“ unbedingten Vorrang genießt gegenüber darüberhinausgehenden Interessen zur Verwirklichung individuellen Glücks[i], haben die Grund-, Freiheits- und Schutzrechte sowie langfristigen Lebens- und Entwicklungsinteressen autochthoner Bevölkerungen und ihrer Lebensräume auch höheres Gewicht als die individuellen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen und Werte, welche durch touristisches Reisen verfolgt werden.
[i] Vgl. SCHLAGNITWEIT M., Einführung in die Katholische Soziallehre. Kompass für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, Freiburg-Basel-Wien (Herder) 2021, S. 120ff.
Zum Autor: Markus Schlagnitweit ist Direktor der ksœ