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14.05.2025
Christina Diewok
Entdecke den Widerborst in dir!
Timothy Snyder, der verdiente US-amerikanische Historiker mit Schwerpunkt Osteuropa und Holocaust, verfolgt in seinem kompakten Band „Über Tyrannei – 20 Lektionen für den Widerstand“ einen ungewöhnlichen Zweck: Er verpackt Erkenntnisse aus der (Zeit-)Geschichtsforschung zu einem Leitfaden für widerständiges Verhalten. Denn in den unendlichen Weiten der Ratgeberliteratur auf der einen und der Sachbuchwelt auf der anderen Seite ist die Schnittmenge für Handlungsanweisungen zum pfleglichen Umgang mit der Demokratie klein und füllt eine wichtige Lücke. Gerade auch deshalb wollen wir dieses Buch (das erstmals 2017 und maßgeblich als Reaktion auf die US Präsidentschaftswahl 2016 erschienen ist) vor den Vorhang holen:
Zunächst ist Snyders Blick auf die Gegenwart hervorzuheben. Im Epilog stellt er zwei Strömungen einander gegenüber, die die Vergangenheit antihistorisch betrachten: einerseits die „Politik der Unausweichlichkeit“ und andererseits die „Politik der Ewigkeit“. Erstere basiere auf dem Gefühl, dass sich Geschichte wie selbstverständlich in Richtung liberaler Demokratie entwickeln müsse. Daraus folge aus seiner Sicht eine verengte politische Debatte, die zwar punktuell Kritik übe, grundsätzlich aber von der Nichtveränderbarkeit des Status quo ausging. Demgegenüber sei Zweitere geprägt von „der Sehnsucht nach vergangenen Augenblicken, die nie wirklich passierten, aus Zeiten, die in Wirklichkeit verheerend waren.“ Dadurch werden Debatten über mögliche Zukunftsentwürfe verhindert und Politik stattdessen zur Diskussion über Gut und Böse. Das Eine sei Koma, das Andere Trance.
Wichtig ist diese Einordnung, weil für Snyder aktuell die Gefahr eines Übergangs von „Unausweichlichkeit“ zu „Ewigkeit“ besteht, in seinen Worten: „von einer naiven und mangelhaften Form von demokratischer Republik zu einer konfusen und zynischen Form von faschistischer Oligarchie“. Daher ist für den Autor die Beschäftigung mit Geschichte auch so zentral. Nicht nur erkennen wir Muster und Momente, in denen nach Freiheit gestrebt werden kann, sondern „…sie [ die Geschichte, Anm.] verschafft uns die Gesellschaft derer, die mehr als wir getan und gelernt haben.“
Vor diesem Hintergrund also doch ein Ratgeber! Die sehr kurz und knackig gehaltenen „Lektionen“ sind nicht nur griffig formuliert, sondern auch durchwegs mit Beispielen aus dem 20. Jahrhundert belegt. Einiges davon ist gängiger Stoff des Geschichteunterrichts, aus der Alltagsperspektive von Einzelnen jedoch klingt so Manches ein Stück konkreter und lädt ein, sich Analogien dazu in der Gegenwart vorzustellen. Weiters überraschte mich, wie facettenreich die behandelten Bereiche sind: von Berufsethos, über Blickkontakt bis Patriotismus sind Denkanstöße gesetzt. Näheres sei hier bewusst nicht verraten.
Dafür noch ein paar Takte zur Rezeption des Buches seit seinem erstmaligen Erscheinen 2017: Auf der Bestsellerliste der New York Times hat sich der Titel in den vergangenen Jahren fast schon zum Inventar der Sachbuch-Kategorie entwickelt, 2021 kam dann eine illustrierte Ausgabe dazu (seit 2024 auch auf Deutsch) und erst vor wenigen Wochen wurde ein Youtube-Video veröffentlicht, in dem der US- Schauspieler John Lithgow das Werk liest: 20 Lessons on Tyranny: by Timothy Snyder / read by John Lithgow
Diese unterschiedlichen Möglichkeiten der Beschäftigung mit Snyders Buch – er ist Wien übrigens auch durch seine Arbeit am Institut für die Wissenschaften vom Menschen verbunden – kommen gerade auch anlässlich des 80. „Geburtstags“ der Zweiten Republik gelegen: denn diesen Anlass wollen wir ja noch viele Jahre feiern können.
Zur Autorin: Christina Diewok ist Leiterin des Büros der ksœ