20 Jahre Ökumenisches Sozialwort
Am Ersten Adventsonntag 2023 jährt sich die Veröffentlichung des
„Sozialworts des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich“ – kurz:
„Ökumenisches Sozialwort“ (ÖSW) – zum 20. Mal. ksœ-Direktor Markus Schlagnitweit schreibt in Interesse. Soziale Information über die Entstehung und Inhalte diese kirchlichen Sozialdokuments.
Der folgende Artikel ist erstmals in Interesse. Soziale Information 3/2023 erschienen.
Entstehung
Die Idee zu einem ökumenischen Sozial-Dokument geht zurück auf die Delegiertenversammlung zum „Dialog für Österreich“ im Oktober 1998 in Salzburg: Nachhaltig inspiriert vom intensiven Diskursprozess, der dem 1990 erschienenen „Sozialhirtenbrief der katholischen Bischöfe Österreichs“ vorangegangen war und die gesamte österreichische Gesellschaft miteinbezog, stimmte eine große Mehrheit der Delegierten nicht nur für ein inhaltliches „Update“ des Sozialhirtenbriefs, sondern auch für ein kirchliches „Upgrade“ im Sinne der Einbeziehung aller christlichen Kirchen des Landes. Dieses Votum machte sich der Ökumenische Rat der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ) zu eigen und beauftragte die Katholische Sozialakademie Österreichs (ksœ) mit der Koordination des folgenden 4-jährigen Prozesses: In dessen erster Phase haben tausende Menschen aus allen 14 Mitgliedskirchen des ÖRKÖ in mehr als 500 Stellungnahmen ihre Erfahrung der sozialen Wirklichkeit beschrieben. Bereits hier wurden äußerst unterschiedliche Wahrnehmungen derselben sichtbar, je nachdem, ob sie von Mitgliedern der historisch und gesellschaftlich etablierten westlichen Kirchen stammten oder aus dem mehrheitlich migrantischen Milieu der orthodoxen und altorientalischen Kirchen. Auch die traditionellen Methoden, mit sozialen Herausforderungen umzugehen, zeigten sich in den einzelnen Kirchen als teilweise sehr divergent. Diese Vielfalt fand Eingang in einen 2001 erschienenen „Sozialbericht“. In einer zweiten Phase ergaben kritisch weiterführende Beiträge aus Parteien, Wirtschaft, Ministerien, sozialen Einrichtungen und Gemeinden zu diesem Bericht sowie viele intensive Diskussionen neue Einsichten, welche die schließlich im Sozialwort behandelten Themenfelder bereits als Schlüsselfragen erkennen ließen. In der dritten Phase haben mehr als 50 Frauen und Männer aus den christlichen Kirchen bei der Erstellung eines Textentwurfs mitgewirkt, der einem eingehenden Begutachtungsprozess in den einzelnen Kirchen unterzogen wurde, ehe alle Kirchenleitungen ihre Zustimmung zur Veröffentlichung des ÖSW gaben. Im Endergebnis ist dieses mithin nicht als „Hirtenwort“ zu lesen, sondern als aus einem bottom up-Prozess entstandenes und die Perspektiven der einzelnen „Kirchenvölker“ wiederspiegelndes, aber dennoch gemeinsames Sozial-Dokument.
Inhalte
Ohne jetzt detailliert auf das die gesellschaftliche Wirklichkeit in großer Breite behandelnde Themenspektrum des ÖSW eingehen zu wollen, sei noch eine Besonderheit vermerkt: Jedes einzelne der ersten 8 Kapitel (inkl. die je 3 Unter-Kapitel der Kap. 4 & 5) listet an seinem Ende konkrete „Aufgaben für die Kirchen“ – Selbstverpflichtungen – und „Aufgaben für die Gesellschaft“ – Forderungen an die Politik – auf. Die Kirchen erklären sich damit ausdrücklich mitverantwortlich für die Entwicklung und Ausgestaltung einer humanen, gerechten und solidarischen Gesellschaft – sowohl mit Blick auf die eigenen Strukturen und praktischen Schwerpunktsetzungen als auch im Sinne anwaltlichen (gesellschafts-)politischen Engagements und politischer Einmischung. Das abschließende 9. Kapitel „Vom Sozialwort zu sozialen Taten“ bekräftigt diese gemeinsame Mitverantwortung noch einmal explizit: Die Kirchen zeigen sich einerseits überzeugt, dass gesellschaftliche Probleme nur in Kooperation mit allen gesellschaftlichen Akteuren im Sinne guter Dialog- und Konfliktkultur gelöst werden können. Andererseits verweisen sie sowohl auf den spezifischen Beitrag, welchen sie selbst als gesellschaftliche Akteure – einzeln oder gemeinsam – bei der Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen zu leisten bereit und fähig sind, als auch auf die aus dem gemeinsamen Glauben gewonnenen Grundsätze, die sie dabei leiten.
Update?
Die Inhalte des ÖSW erscheinen mir auch heute noch unverändert aktuell und einer aufmerksamen Relecture wert. Natürlich würden manche Schwerpunkte 2023 anders gesetzt: Das Kapitel 6 „Frieden in Gerechtigkeit“ würde vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs wohl anders akzentuiert, ebenso das Kapitel 5.c „Soziale Sicherheit“ mit den Erfahrungen der Covid-Pandemie. Das Kapitel 8 „Zukunftsfähigkeit: Verantwortung in der Schöpfung“ würde vermutlich mit einer noch viel höheren Dringlichkeit versehen, und vielleicht würde ein upgedatetes ÖSW um ein Kapitel erweitert, das sich der Krise und Weiterentwicklung der Demokratie widmet.
Andere Gewichtungen ergäben sich aufgrund veränderter Kräfteverhältnisse innerhalb der Ökumene: Vertrauens - und Mitgliederverluste bei den historisch etablierten westlichen Kirchen (besonders der römisch-katholischen), Mitgliederzuwachs und stärkere gesellschaftliche Integration östlicher Kirchen. Und schließlich ist heute nach der Kraft ökumenischen Wollens zu fragen: Vermutlich wäre es ohne die Initiative und Ressourcen aus den Reihen der römisch-katholischen Kirche nie zu einem ÖSW 2003 gekommen. Diese ist zwar immer noch der größte Player in der österreichischen Ökumene, scheint derzeit aber übermäßig mit sich und notwendigen inneren Reformen beschäftigt zu sein. Andererseits bezweifle ich, dass das gesellschaftspolitische Verantwortungsbewusstsein der christlichen Kirchen maßgeblich gesunken ist. Aber im unaufhaltsamen Säkularisierungsprozess unserer Gesellschaft unterliegt auch die gesellschaftliche Rolle der Kirchen (und der Religionen generell) einem Wandel, der danach fragen lassen muss, ob ein bloßes Update des ÖSW heute überhaupt das zeitgemäße Mittel der Wahl wäre, um als christliche Kirchen gemeinsam gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen.
Dr. Markus Schlagnitweit, ksœ-Direktor Wien, im Sommer 2023